Wie Selbstführung die Zusammenarbeit im Team beeinflusst
Zusammenfassung
Gefühle wie Langeweile, Ärger, Freude oder Beschwingtheit beeinflussen direkt Entscheidungen, Kommunikation, Konfliktfähigkeit und viele andere Aspekte der Zusammenarbeit im Team. Die geschieht unabhängig davon, ob diese Gefühle “echt” sind oder unbewusst eigentlich andere Themen dahinterstecken. Durch diesen Zusammenhang und auch durch die indirekten Spiegel-Effekte von einer Person auf Andere hat die Selbstführung jedes einzelnen Teammitgliedes einen großen Einfluss auf die Teamarbeit.
Die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) ist eine sehr wirksame Methode für einen bewussteren Umgang mit Gefühlen und Bedürfnissen. Die vier Komponenten der GFK nach Rosenberg und eine wertschätzende Haltung ermöglichen es, ohne Bewertungen klar zu kommunizieren. Das ist wichtig, um aktiv Entscheidungen, Beziehungen und mehr zu reflektieren, anzunehmen und gestalten.
Sehr intensive oder länger bekannte Gefühle sind oft ein Anzeichen dafür, dass eine Person nicht gut mit ihren Selbstanteilen verbunden ist. Verschiedene Methoden der Inneren-Kind-Arbeit (Schattenarbeit) oder Purpose-Schärfung (Lichtarbeit) können in diesen Momenten dabei unterstützen, intensive Gefühle besser zu regulieren. Um langfristig ganz in die eigene Kraft zu kommen, lohnt sich der mutige Blick über das individuelle System hinaus, um auch dort Vermischungen und Blockaden aufzulösen.
Die GFK, die Arbeit mit Selbstanteilen und der Blick auf größere systemische Zusammenhänge können als drei unterschiedliche Stufen der bewussten Selbstführung verstanden werden. Jede einzelne Stufe ist es Wert erklommen zu werden und bringt das Team dem Ziel einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe weiter. Ganz gleich, ob es darum geht, Konzepte von “New Work” zu etablieren oder ganz einfach, in Zukunft effektiver und effizienter miteinander zu kommunizieren. Denn erst die bewusste Verbindung mit eigenen Gefühlen, Bedürfnissen und Selbstanteilen ermöglicht Verbundenheit mit Anderen.
Lesezeit: circa 15 min Text: Sonja Mewes Sparring: Antje Reichert Lektorat: Friederike Grigoleit
Wie unsere Gefühle Entscheidungen beeinflussen
Als Menschen sind wir sowohl autonome Individuen als auch immer Teil einer Gruppe bzw. mehreren Gruppen. Im Arbeitskontext können wir als Einzelperson beispielsweise Teil eines Team, Teil der Führungsmannschaft oder Teil der Organisation sein.
Der Erfolg im Team wird durch alle Beteiligten beeinflusst: durch den/die Einzelne (“Ich selbst”), die anderen Teammitglieder (jeweils “Sie selbst”) und unsere Beziehungen zueinander. Der Umgang mit dem Selbst und wie wir unsere Beziehung zueinander gestalten oder hinnehmen, beeinflusst unseren Arbeitserfolg, unser Miteinander, unsere Zufriedenheit, unsere Kreativität und vieles mehr.
Veränderung beginnt immer bei uns selbst. So ist auch der Arbeitserfolg des gesamten Teams nur steuerbar, wenn wir bei uns selbst beginnen. Ausgehend von unseren eigenen Ressourcen, unseren Gefühlen und Bedürfnissen können wir auch das Miteinander mit Anderen bewusst gestalten.
Betrachten wir alleine die uns heute bekannten Einflüsse unserer Gefühle: Wie Marc Brackett (Professor an der Yale University und Director of the Yale Center for Emotional Intelligence) in seinem Buch “Permission to feel” zusammenfasst, korrelieren Gefühle zum Beispiel damit ob und wie gut wir lernen, welche Entscheidungen wir treffen, mit wem wir welche Art von Beziehungen eingehen oder in welcher gesundheitlichen Verfassung wir uns befinden.
Seine Beobachtungen könnten sich in Deiner Organisation beispielsweise so äußern:
Beispiel 1: Es gibt ein neues Arbeitstool. Mit Hilfe eines Trainings sollen alle lernen, wie dieses funktioniert.
- Wenn Du beim Training gelangweilt bist, kannst Du Dich schwer konzentrieren und nimmst daher vielleicht Informationen gar nicht erst wahr. Dies kann später zu einem ineffizienten Miteinander im Team führen, weil es Unklarheiten im Arbeitsablauf gibt.
- Wenn Du gerade Angst empfindest (sei es in Bezug auf das Produkt, andere Teammitglieder oder etwas Privates), kann diese Angst Deine Energie blockieren und somit verhindern, dass Du Neues überhaupt wahrnimmst. Ähnlich wirken Scham-Empfindungen, weil Du vielleicht besorgt bist, es nicht richtig zu verstehen oder Resignation, weil Du wegen zu vieler neuer Themen schon längst keine Aufnahmekapazitäten mehr hast.
- Freudige Aufgeregtheit hingegen stimuliert die Fähigkeit Deines Gehirns, Ideen aufzunehmen und Neues mit Bekanntem zu verknüpfen. Auf diese Weise kannst Du neu Gelerntes später besser anwenden.
Die Lernergebnisse unterscheiden sich je nachdem, welche Gefühle bei Dir und bei jedem einzelnen Teammitglied bereits vorhanden war oder erst während des Trainings entstanden ist. Das wirkt sich anschließend auf die Umsetzung aus.
Beispiel 2: Eine wichtige Kundin ist unzufrieden mit den aktuellen Ergebnissen und stellt eine schwierige neue Anforderung an euch. Ihr müsst euch entscheiden, ob und inwieweit die Umsetzung möglich ist und gemeinsam neue Strategien entwicklen.
- Bereits ob Du diese Situation als schwierig oder machbar bewertest, hängt von Deinen Gefühlen ab. Sind diese im Moment eher angenehm (zum Beispiel weil Du vorher ein interessantes Gespräch mit einer Kollegin geführt hast), ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Du die Anforderung als realisierbar bewertest. Wenn Du hingegen gerade sowieso eher unangenehme Gefühle empfindest (zum Beispiel, weil das vorhergehende Gespräch mit der Kollegin wenig dienlich gewesen ist), stehen die Chancen für Deine Zuversicht für die Realisierung schlechter.
- Auch der Detailgrad der unangenehmen Gefühle ist wichtig. Personen, die ihren Ärger unreflektiert in ihre Interaktionen mit anderen einbringen, tendieren eher dazu, Anderen die Verantwortung für Fehler zuzuschreiben. Sie würden nun vielleicht im Team zunächst für Unruhe sorgen, da sie sich mit der Schuldfrage beschäftigen würden. Dafür könnten sie später laut Untersuchungen eher konstruktiver in Bezug auf eine Lösung eingestellt sein, weil sie sich grundsächlich in größerer Kontrolle über ihr eigenes Leben wähnen.
- Sind Personen hingegen gerade traurig und können dies nicht gut abgrenzen von der Zusammenarbeit, tendieren sie dazu, externe Umstände verantwortlich zu machen und pessimistisch in Bezug auf die Problemlösung zu sein, da sie sich von den externen Umständen eher abhängig sehen.
Um dies nicht einfach unbewusst “geschehen zu lassen” ist es für die Gesundheit jedes/jeder Einzelnen, des Teams und der gesamten Organisation wichtig, ein klareres Bewusstsein über die eigenen Gefühle zu entwickeln und dem auch Raum zu geben. Gefühle als Signalgeber zeigen an, was eine Person gerade braucht (ängstlich: vielleicht Sicherheit / gelangweilt: vielleicht mehr Sinn-Verbundenheit usw.). Das Wahrnehmen von Gefühlen bildet zudem die Grundlage der Eigenverantwortung: Es ermöglicht der Einzelperson, bewusst zu überlegen, wie sie sich diese Bedürfnisse ganz verantwortungsvoll selbst erfüllen kann, welche Strategien ihr zur Verfügung stehen und wie deren Umsetzung sich auf das Team auswirken könnte.
Die Fähigkeit, eigene Gefühle und die von Anderen wahrzunehmen, sie zu unterscheiden und diese Informationen bewusst in das eigene Denken und Handeln zu integrieren, ist die Definition von “Emotionaler Intelligenz” (vgl. Salovey und Mayer 1990). Die Innenperspektive, also die eigenen Gefühle wahrzunehmen und bewusst mit ihnen umzugehen, vom Annehmen zum Regulieren zu gelangen, sind Kernbestandteile von Selbstführung.
Grundlage für Selbstführung: bewusste Wahrnehmung von Gedanken, Gefühlen und Bedürfnissen mittels GFK
Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, um sich selbst bewusster wahrzunehmen. Neben regelmäßiger Meditation, Journaling, Coaching und weiteren Reflektionsmöglichkeiten können auch die Haltung und die vier Komponenten (auch vier Schritte genannt) der GFK nach Rosenberg sehr gut dabei unterstützen.
Vier Komponenten der GFK
In der GFK wird davon ausgegangen, dass grundsätzlich jede Person unendlich wertvoll ist und ihre guten Gründe hat, so zu agieren, wie sie es tut. Dies gilt genauso für mich als Anwenderin selbst und jedes einzelne meiner eigenen Gefühle, da sie mir anzeigen, was mein Körper oder meine Seele gerade benötigen. Die vier Komponenten der GFK leiten mich, zuerst bei mir selbst bewusst 1) zu beobachten, welche Informationen ich erhalten habe, 2) meine Gefühle wahrzunehmen und 3) die damit verbundenen Bedürfnisse zu ergründen, die gerade erfüllt oder im Mangel sind.
Nehme ich beispielsweise meinen Ärger in der oben skizzierten Situation mit meiner unzufriedenen Kundin bewusst wahr, ist der erste Schritt getan, die unangenehmen Folgen dieses Ärgers nicht mit in die Lösung des Problems oder in die Teambesprechung zu tragen.
Stattdessen kann ich im nächsten Schritt mit achtsamer Neugier ergründen: Was fehlt mir gerade? Was brauche ich eigentlich wirklich? Steckt hinter meinem Ärger vielleicht eher ein Wunsch nach Ruhe, dem ich durch eine erneute Besprechung nicht nachkommen kann oder eine Unsicherheit, weil ich wirklich beitragen möchte, aber einfach gerade einfach nicht weiß, ob oder wie ich der Unzufriedenheit des Kunden mit Verlässlichkeit begegnen kann?
Mit dieser Reflektion kann ich zunächst selbstverantwortlich überlegen, mit welchen verschiedenen Strategien ich meine Bedürfnisse erfüllen kann und 4) eine Bitte an mich selbst richten.
Ich kann mich selbst zum Beispiel bitten für mich zu sorgen, indem ich drei bewusste, tiefe Atemzüge am geöffneten Bürofenster nehme. Dies könnte mir dabei helfen, mich in der Teambesprechung wieder besser auf das eigentliche Thema zu konzentrieren.
Zusätzlich kann ich ins Gespräch gehen mit den anderen Personen aus dem Team, um ihre Bedürfnisse im Gespräch zu erfahren und gemeinsam Lösungsstrategien zu entwickeln, die für alle passend sind. Und ich kann sie ebenfalls bitten, mich bei der Erfüllung meiner Bedürfnisse zu unterstützen – ganz freiwillig. Im ersten Fall kann ich zum Beispiel erfragen, ob eine Terminverschiebung zur Problemlösung möglich ist und mich bis dahin um mein Ruhebedürfnis mit einer kurzen Meditation oder einem Spaziergang kümmern.
Haltung in der GFK
Was zunächst recht einfach klingt, ist im Alltag häufig schwer anzuwenden. Sehr schnell sind wir dabei, andere Menschen zu bewerten (z. B. “Meine Kollegin enthält mir absichtlich eine Information vor”), Handlungen zu interpretieren (z. B. “Sie will bestimmt eine Beförderung erhalten.”) oder zu vergleichen (z. B. “Ich habe viel mehr beigetragen.”).
In diesen Momenten gehen wir, um es mit den Worten meines GFK Trainers Roland Eggert auszudrücken, in die “Waffenkammer”. Und noch bevor wir es merken, senden wir Signale zum Angriff, was die anderen beteiligten Personen in der Kommunikation entweder spüren oder durch Worte hören und was sie veranlasst, ebenfalls in ihrer eigenen Waffenkammer nach “Geschützen” zu suchen, um sich zu verteidigen. Diese Waffen richten wir übrigens genauso schnell auch gegen uns selbst.
Doch ist diese biologisch in uns angelegte Stressreaktion, die uns zu Zeiten von Jägern und Sammlern das Überleben sicherte, auch die Strategie, die wir 2021 im Business wählen möchten? Falls ja, sind Wertschätzung, Augenhöhe, Verbindung und Sicherheit als wichtige Grundlagen für wirksames Miteinander dann so schnell erst einmal nicht mehr zu erreichen.
Gelingt es uns, mit Klarheit über uns selbst stattdessen in einer wertschätzenden Haltung zu kommunizieren und offen für mögliche, gemeinsame Lösungsstrategien zu sein, können wir als Einzelpersonen einen großen Einfluss auf das Miteinander im Team oder die Bereitschaft zur Zusammenarbeit nehmen.
Indem wir mit gutem Beispiel vorangehen, “zeigen” wir uns und geben uns vielleicht sogar verletzlich. So bereiten wir auch den anderen Personen Raum, sich selbst zu zeigen, sich mit ihrer Verletzlichkeit einzubringen und tatsächlich mit uns zusammen-zu-arbeiten.
Das "Selbst" in Selbstführung verstehen: Verbindung zu allen Selbstanteilen herstellen
Vor der Klärung der individuellen Bedürfnisse und der Betrachtung möglicher Lösungsstrategien, kann es hilfreich sein, sich noch eine weitere, grundlegende Frage zu stellen: “Kenne ich dieses Gefühl (z. B. Unsicherheit) schon länger?”
Ist die Antwort darauf ein Ja, ist dies möglicherweise ein Anzeichen dafür, dass mich die aktuelle Situation an eine ähnliche, bereits einmal oder mehrfach erlebte Situation erinnert. Dies kann darauf hindeuten, dass erst in der intensiveren Auseinandersetzung mit meinen unangenehmen Gefühlen eine langfristige Auflösung möglich ist.
Denn wir wählen aus allen möglichen Reizen jeweils bewusst oder unbewusst denjenigen Auslöser aus, der die Bedürfnisse anspricht, die im Hier und Jetzt wichtig sind. Diese Entscheidung ist allerdings beeinflusst von Annahmen, kulturellen Prägungen, Sprachkompetenzen, Glaubenssätzen, Grundstimmungen und ethischen Vorstellungen. Hinzu kommen weitere individuelle Faktoren wie Rollenverständnis, Sozialisation, Erfahrungen, Beziehungen und/oder gespeicherte Urteile. Dieser Auslöser ist aber nicht die wirkliche Ursache für unsere bekannten Gefühle.
Selbstanteil "Jüngeres Selbst"
Vor diesem Hintergrund zeigt sich in der Gefühlsreaktion mitunter ein “Jüngeres Selbst” (oder auch “kindliches Selbst”), das in einer ähnlichen Situation Erlebtes nicht ganz verarbeiten konnte, eine große Not erlebt oder sogar Todesangst verspürt hat (das ist bei kleinen Kindern sehr schnell der Fall). Vielleicht zeigt sich eigentlich gerade mein “dreijähriges Selbst”, das im Kinderkrankenhaus wenig liebevoll behandelt wurde, oder die 12-Jährige, die sich nach dem Tod der Lieblingsoma ganz allein und mit keinem allen Menschen auf dieser Welt verbunden fühlt.
Spüren wir Gefühle wie Ärger oder Wut besonders intensiv oder auch eine Ratlosigkeit oder Ohnmacht übernimmt sozusagen das “Jüngere Selbst” gerade das Ruder. Sind wir nicht gut mit uns selbst verbunden, überwältigen uns diese Gefühle und wir können sie nicht vom aktuellen Konflikt trennen.
So wird es fast unmöglich, eine befriedigende Lösung zu finden. Das dreijährige Kind in uns hatte sehr gute Gründe für seine Reaktion. Liebevolle Zuwendung zu suchen war vielleicht seine Überlebensstrategie und nun sehnt es sich nach etwas, dass ihm andere (wie die Kolleginnen) sowieso nicht geben können, beziehungsweise was gar nicht in deren Verantwortung steht. Wie Konflikte zwischen Erwachsenen zu lösen sind, kann und muss es aber gar nicht verstehen.
Selbstanteil "Ich"
Können wir jedoch die Not unseres “Jüngeren Selbst” wahrnehmen und uns zunächst liebevoll um dieses sorgen, haben wir die Chance, im Konflikt wieder mit unserem heutigen “Ich” das Ruder zu übernehmen und mit mehr Ruhe und Vertrauen in die eigentliche Konfliktklärung zu gehen. "Ich" bin die Person, die mich in diesem Moment mit all meinen Erfahrungen und Erwartungen ausmacht, die atmet, die gerade lebendig ist.
Selbstanteil "Souveränes Selbst"
Das “Souveräne Selbst” kennen wir zum Beispiel aus Momenten des Tief-Berührt-Seins, des im Flow-Seins, wenn wir eine Art Frieden im Jetzt empfinden. Andere Begriffe dafür sind das “Erwachsene Selbst” (wie bei Langlotz), die Seele/Soul (wie bei Kelly) oder auch das “Higher Self”. Dieser Anteil kennt schon immer meine Lebensaufgabe oder auch Purpose genannt, kennt die mir wichtigen Werte und weiß, wie wertvoll ich bin.
Zusammen mit dem Raum, der alle Anteile beinhaltet, beschreiben sie aus systemischer Perspektive, was “mich selbst” und damit die Ganzheit meiner Selbstanteile in meinem inneren System ausmacht und mich gegenüber anderen abgrenzt.
Ganz "Ich selbst" sein
Wenn in Bezug auf “New Work” von einem anderen, echten Miteinander oder vom “Authentisch sein” als Grundlage gesprochen wird, sind mir bereits mehrfach die Fragen begegnet: “Was ist daran anders? Ich bin doch immer authentisch, ich bin doch immer ich.” In unserer Alltagssprache sprechen wir aber eigentlich eher über den oben beschriebenen Selbstanteil “Ich”. Das “Authentisch sein”, durch das ein neues Miteinander möglich wird, meint aber vielmehr ein “Ganz ich selbst sein”, bewusster alle Selbstanteile wahrzunehmen, sich (regelmäßig neu) mit ihnen zu verbinden und gegebenenfalls zu aktiv zu regulieren (=bewusste Selbstführung).
In manchen Momenten oder an manchen Tagen scheint das ganz einfach zu sein. Dann sind wir unabhängig von äußeren Faktoren – an verschiedenen Orten, in Gesellschaft oder allein – zufrieden, und können genießen, Leichtigkeit erleben, lernen oder wachsen. Und dann sind da diese Augenblicke, wenn uns mal mit oder mal ohne Vorwarnung wieder alte unangenehmen Erfahrungen durch Auslöser im Heute unangenehm berühren. Die folgenden Strategien können Dich in diesen konkreten Momenten oder auch nachhaltig mit deinen Selbstanteilen verbinden.
Aktive Selbstführung: Mein “Jüngeres Selbst” darf Heilung erfahren
Während die GFK uns unterstützt, Gefühle besser wahrzunehmen und zu benennen, gibt sie uns innerhalb dieses Prozesses auch die Gelegenheit, näher hin zu spüren. Begegnet uns dabei ein Gefühl, dass uns schon länger begleitet, kann das ein Zeichen eines unverarbeiteten Erlebnisses meines “Jüngeren Selbst” sein. Es sitzt sozusagen vielleicht schon am Ruder und beeinflusst mein Denken und Handeln.
Unabhängig von der eingesetzten Methode zur Reflektion – sei es GFK, Meditation, Coachinggespräche oder andere Methoden – gilt: Bereits diese Aufmerksamkeit “Aha, hier ist etwas, das ich kenne, vielleicht etwas Altes” bringt uns besser mit unserem “Jüngeren Selbst” in Verbindung.
Von diesem Punkt aus kannst Du zum Beispiel durch Visualisierungsmethoden in eine sogenannte Innere-Kind-Arbeit gehen. Dabei stellst Du Dir vor, wie das gerade aktive “Jüngere Selbst” direkt vor Dir steht und Dir sozusagen die Sicht versperrt und so Dein “Ich” abhält in ein besonnenes Handeln zu kommen. Symbolisch stellst Du es wieder neben Dich, an seinen eigentlichen Platz (vgl. Langlotz). Dort befragst Du es gedanklich, wie es ihm gerade geht und was es gerade braucht. Je nach Rückmeldung kannst Du genau diese Wünsche durch Deine Aufmerksamkeit erfüllen. Manchmal reicht hier zum Beispiel schon ein “Ich weiß, Du fühlst dich traurig und allein. Heute sehe ich Dich und bin bei Dir. Du bist nicht allein”.
Je nach Thema können so schon leichtere innere Blockaden aufgelöst werden. Fällt es Dir schwer, diese Arbeit alleine zu machen, können Dich eine Begleitung oder Methoden wie der systemischen Selbst-Integration nach Langlotz unterstützen. Hier werden die Selbstanteile und Blockaden in einem geschützten und begleiteten Rahmen aufgestellt, durch Erinnern nochmals durchlebt und mit Ritualen aufgelöst. So erhältst Du eine neue Perspektive und Dein neuronales System kann neue Verknüpfungen zu diesem Thema aufbauen, um in Zukunft anders denken und handeln zu können. Eine Therapeuthenliste für diese Arbeit findest du hier. Ich selbst kann die Arbeit von Roland Eggert und Kerstin Völker persönlich empfehlen.
Auch geführte Meditationen, Hypnosetechniken oder weitere Strategien unterstützen die Innere-Kind-Arbeit. Je nach Schwere der Blockade und damit der Trennung von “Dir Selbst” kann eine langfristige traumatherapeutische Begleitung notwendig werden, in der diese Prozesse ebenfalls eingebettet sein können.
Aktive Selbstführung: Orientierung, Kraft und Zuversicht durch die Verbindung mit dem “Souveränen Selbst”
So wie das “Jüngere Selbst” oftmals eher mit Blockaden oder auch Traumata (=abgespaltene Selbstanteile) verbunden ist (die sogenannte Schattenarbeit) können wir uns über unser “Souveränes Selbst” eher mit unserer ganzen Energie, unserem Licht verbinden. Tim Kelly, Gründer des “True Purpose Institute” spricht in seinem Buch von unserem wissenden Selbstanteil als “Seele”, den ich hier als “Souveränes Selbst” bezeichne. Auch wenn die Begriffe vielleicht nicht hundertprozentig übereinstimmen, gilt doch für beide seine Beschreibung: “Es gibt einen (im Alltag unbewussten) Teil ins uns, der kennt unseren Purpose, den Grund warum wir im Leben sind, was uns ausmacht, der immer ganz und vollständig war und sein wird.”
Die bewusste Verbindung meines “Ich” zu meinem Purpose (oder auch Essenz oder Lebensaufgabe) und die Klarheit über die mir wichtigen Werte für ein leichtes und volles Leben kann mich ebenfalls in meiner Selbstführung unterstützen.
Erinnere ich mich auch in unangenehmen Momenten an diese Worte oder kann mich sogar in diesen Zustand einfühlen, kann mir dieses Bild Orientierung geben und auch Kraft und Zuversicht schenken:
- Orientierung auf dem Weg zu einer gewünschten Wirklichkeit – so, wie es eigentlich sein sollte”. Wenn mich z. B. ein Gefühl des “Alleinseins” wieder daran erinnert, wie wichtig mir “Gemeinschaft” ist, die vielleicht in unserem Team nicht so gelebt wird, wie ich sie mir erhoffe.
- Und Kraft und Zuversicht, weil ich aus mir selbst heraus weiß, wie sich Gemeinschaft anfühlen kann und deshalb weiß, dass ein gemeinschaftliches Miteinander möglich ist.
Dieses Wissen kann mir helfen, nochmals auf Themen zu schauen, die ich bis jetzt bei mir selbst vielleicht ignoriert habe oder noch einmal in die Kommunikation mit dem Team zu gehen, um gemeinsam entsprechende Strategien zu erarbeiten. Es kann mich aber auch darin bestärken, nach mehreren gescheiterten Versuchen für mich selbst zu sorgen und ein Team zu suchen, dass den Gemeinschaftswert genauso hoch bewertet wie ich.
Purpose Angebote im Sinne des True Purpose Ansatzes findest Du zum Beispiel bei Soulworx oder Monika Steimle. Oder du integrierst das Schärfen deines Purposes innerhalb eines Bewusstseins-Coaching Zyklus.
Vertiefung: Verbindungen über das System des Individuums hinaus ent-wickeln
Bei der Beschreibung der Selbstanteile habe ich mich unter anderem an das Konzept der systemischen Selbst-Integration des Psychiaters Dr. med Langlotz angelehnt. Zu seinen Beobachtungen, in die viele psychologische, philosophische, schamanische und andere Aufstellungs-Erfahrungen eingeflossen sind, gehört jedoch noch eine weitere wichtige Perspektive: die des gesamten Systems, mit dem eine Person verbunden ist.
Das wichtigste System, mit dem wir spätestens seit unserer Geburt verbunden sind, ist unser Familiensystem. Dazu gehören Menschen aus unserer Ahnenreihe oder zusätzlich eng verbundene Menschen, wie ein späterer Stiefvater oder ähnliche Bezugspersonen.
Nach den Beobachtungen von Langlotz vermischen wir nicht nur unsere eigenen Selbstanteile (wenn zum Beispiel das “Jüngere Selbst” anstatt unserem “Ich” das Ruder übernimmt). Wir vermischen uns auch mit den Selbstanteilen anderer Personen aus unserem größeren Bezugssystem.
Ein Selbstanteil von mir ist vielleicht mit dem “Ich” eines Elternteils verbunden, weil dieser selbst nicht ganz mit sich verbunden gewesen ist, die Grenze sozusagen “offen” war und ich auf diese Weise trotz einer gefühlten Abwesenheit ihm nah sein kannte. Im Alltag habe ich dann zum Beispiel oft das Gefühl, besser zu wissen, wie dieser Elternteil sein Leben führen sollte. Gleichzeitig fehlt mir symbolisch gesprochen mein “Ich”. Ich bin “selbstlos” (siehe auch Selbstentfremdung) und mir wird es immer schwer fallen, mich mit meinen wirklichen Gefühlen zu verbinden.
Oder mein “Ich” kann sich im zweiten Fall nicht entfalten, weil der Platz meines eigenen “Ich” bereits durch ein Elternteil besetzt ist (siehe auch Introjekte, Parentisierung oder andere psychologische Konzepte). Das kennen wir zum Beispiel von “Sportler-Eltern”, die ihren eigenen Traum nicht verwirklichen konnten und nun das eigene Kind “unterstützen” diesen Traum zu leben.
Die Hintergründe für diese Vermischungen erklärt Langlotz in seinem Buch “Symbiose in Systemaufstellungen” oder auch in seinen Youtube-Beiträgen. Im systemischen Selbst-Integrationsansatz von Langlotz werden diese Vermischungen sichtbar gemacht. Die Selbstanteile von mir und weiteren Personen sowie die bestehenden Blockaden werden im Raum aufgestellt. Verschiedene Rituale wie das Grenzen setzen, das “Jüngere Selbst” willkommen heißen und weitere unterstützen dann das Auflösen und Entwirren.
Auch wenn nun beim Lesen vielleicht Gedanken kommen wie “Das ist ja sehr persönlich und hat nichts mit unserer Teamarbeit zu tun.” kann es doch für jeden Einzelnen sehr lohnenswert sein, sich diese Verstrickungen bewusst zu machen oder wenn es möglich ist aufzulösen. Denn die typischen Verhaltensmuster aus dem Familiensystem finden sich oftmals auch im Verhalten in anderen Systemen wie in meinem Team wieder (z. B. indem ich mich hier ebenfalls “übergriffig” verhalte, immer alles besser weiß als meine Kollegin oder mich in Themen einmische, für die ich nicht verantwortlich bin).
Ganz im Sinne der GFK und bewusster SELBSTführung geht es nun aber nicht darum, als Hobby-Psychologin der Kollegin dringend eine solche System-Aufstellung anzuraten. Vielmehr möchte die Beschreibung inspirieren in Eigenverantwortung zu prüfen, ob ich sozusagen selbst diese Kollegin bin. Und zu prüfen, ob ich nach einer solchen Erkenntnis die Kraft verspüre, eigene Verstrickungen zu betrachten und wenn möglich aufzulösen, um auch langfristig viel mehr “ganz ich selbst” sein und aus der eigenen Kraft heraus authentisch agieren zu können. Wissend, dass jeder zu jedem Zeitpunkt das Beste tut und gute Gründe für sein Handeln hat, kann das ebenfalls heißen, gerade nichts zu tun.
Es lohnt sich! Potentiale der bewussten Selbstführung
Drei Stufen der bewussten Selbstführung
Stufe 1) Mehr Bewusstsein über Gefühle und Bedürfnisse
GFK (und andere Ansätze oder Methoden) unterstützen grundsätzlich die Selbstführung durch einen bewussteren Umgang mit Gefühlen und Bedürfnissen. Ihre Anwendung ermöglicht es, ohne Bewertungen klar zu kommunizieren, was wirklich wichtig ist. Dadurch fällt es leichter, aktiv Entscheidungen zu treffen und Beziehungen und mehr zu reflektieren und zu gestalten. Um wieder zum Beispiel vom Anfang zurückzukehren: Statt bei der Präsentation “gelangweilt” zu sein und später Informationen zum Prozessablauf zu vergessen, kann ich mich zum Beispiel einbringen mit meinem Wunsch nach “mehr Sinn-Klarheit der Aufgabe”.
Stufe 2) Gefühle durch innere Verbindung regulieren
Sehr intensive oder länger bekannte Gefühle zeigen mir an, dass ich nicht gut mit meinen Selbstanteilen verbunden bin. Durch verschiedene Methoden der Inneren-Kind-Arbeit (Schattenarbeit) oder Purpose-Schärfung (Lichtarbeit) kann ich mich in diesen Momenten intensiver Gefühle selbst besser regulieren/führen. Dadurch kann ich nochmals andere Effekte auf mein Team erreichen, da ich “meine” Themen bewusster abgrenzen kann von den Themen anderer Personen oder des Teams.
Stufe 3) Verbindungen über das System des Individuums hinaus gestalten
Um auch langfristig ganz in meine Kraft zu kommen, lohnt sich der mutige Blick über das System des Individuums hinaus, um auch von dort Selbstanteile wieder zurückzuholen (nicht mehr selbstlos sein) oder Introjekte (Selbstanteile anderer) aus dem eigenen Raum zu lösen.
Der Blick hinaus muss übrigens nicht bei der Perspektive auf Familie und Organisation enden. Auch die Betrachtung von Gesellschaftssystemen bis hin zu einer universellen Verbundenheit können dafür lohnenswert sein.
Mit Hilfe der bewussten Stufen der Selbstführung mehr Authentizität zu erlangen, also ganz ich selbst zu sein, klingt vielleicht spannend oder wünschenswert. Doch was ermöglicht der damit verbundene Energieeinsatz konkret und wer hat davon Vorteile?
Potentiale der bewussten Selbstführung für Dich selbst
Ganz Du selbst zu sein ermöglicht Dir, mehr Kraft zu verspüren für das Umsetzen Deiner Pläne. Durch weniger innere Reibungspunkte kannst Du Deinen eigenen Stress reduzieren. Dies wiederum stärkt Deine Gesundheit, fördert Deine Kreativität und lässt Dich schneller zur Ruhe kommen. Aus dieser Ruhe heraus kannst du Dich klarer ausdrücken, Deine Grenzen besser im Blick behalten, auf Augenhöhe kommunizieren und gleichzeitig offener für die Bedürfnisse anderer sein.
Potentiale der bewussten Selbstführung für Dein Team oder Deine Organisation
Auch Teams und Organisationen haben (ganz unterschiedliche) Bedürfnisse. Je nach Organisationsform, Kultur und gesetzten Erfolgskriterien können diese Bedürfnisse auf verschiedenen Wegen erfüllt werden – mit oder ohne bewusster Selbstführung.
In Organisationen, in denen ein gesundes Miteinander (resiliente Organisation), Augenhöhe und Selbstverantwortung Teil der gelebten oder gewünschten Kultur sind, ist Authentizität ein wichtiger Aspekt. Das Ganz-Ich-Selbst-Sein jeder Einzelperson kann folgende Vorteile haben:
- Die Übernahme von Verantwortung für die eigenen Gefühle und Bedürfnisse und deren Regulation oder Erfüllung reduziert den Stress nicht nur für uns, sondern auch für die Menschen um uns herum. Der Raum des Teams ist damit gleich etwas “leerer” und kann noch besser für effizientes, flexibles und wirksames Arbeiten verwendet werden.
- Erst wenn wir uns bewusst selbst wahrnehmen und annehmen ist eine wertschätzende und klare Kommunikation möglich. Diese erlaubt uns, auszudrücken, was wir gerade wirklich brauchen und gleichzeitig auch zuhören zu können, was Andere gerade benötigen – von den Kundinnen bis hin zu den Kolleginnen. Auf dieser Grundlage können dann wiederum wirkungsvolle Strategien erarbeitet werden, welche die wichtigsten Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigen. So kann langfristig eine gute partnerschaftliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe entstehen.
- Kann eine Führungskraft selbst wertschätzend kommunizieren, zeigt sie sich selbst ganz menschlich und verletzlich und gleichzeitig wirkungsvoll und kraftvoll. Dies schafft eine starke Basis für Vertrauen und kann Anderen ein Vorbild sein, selbst wertschätzender zu agieren. Je mehr Vertrauen spürbar ist, desto kreativer und wirksamer können die Arbeitsergebnisse ausfallen.
Potentiale der bewussten Selbstführung für die Gesellschaft
Organisationen, in denen hingegen nur monetäre Erfolge wichtig sind und der Mensch eher als Ressource ansehen wird, können diesen Erfolg kurzfristig auch durch Druck und eine gewisse Erwartung an die Selbstlosigkeit der Mitarbeiterinnen erreichen (siehe variable Vergütung, Überstunden usw.).
Dieser Stress wird auch ins Private getragen, beziehungsweise erhöht den bereits vorhandenen Stress (durch unseren schnelllebigen Lebenswandel). Dann können die eigenen Kinder vielleicht weniger liebevoll im Alltag begleitet werden, sondern müssen funktionieren, da keine Energie für mehr übrig ist. Oder es können Kosten für die Sozialkassen für Burnout bedingte Ausfallzeiten und Genesungsmaßnahmen entstehen. Organisationen, die Stress noch erhöhen, wirtschaften sozusagen auch auf Kosten der Gesellschaft.
Organisationen hingegen, die einen bewussten Umgang miteinander und auch die Selbstverantwortung des Einzelnen unterstützen, tragen einen wesentlich zu einem ganzheitlich nachhaltigem Wirtschaften bei.
Darüber hinaus werden Führungskräfte oder einzelne Personen, die mit sich selbst und ihren echten Gefühlen verbunden sind, nachhaltigere Entscheidungen treffen, z. B. über Produktionsstandorte oder Ressourcenverwendung. Denn indem sie mit sich selbst mehr verbunden sind, können sie auch mit der Gemeinschaft und unserem Planeten besser verbunden sein.
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Referenzen
Marc Brackett (2019): Permission to feel - Unlock the power of emotions to help yourself and your children thrive. Quercus.
Tim Kelly (2009): True Purpose - 12 strategies for discovering the difference you are meant to make. Transcendent Solutions Press.
Ernst Robert Langlotz (2015): Symbiose in Systemaufstellungen: Mehr Autonomie durch Selbst-Integration. Springer.
Marshall B. Rosenberg (2001): Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens. Junfermann Verlag.